Julius Kerscher
Jahrgang 1982, lebt und arbeitet in München.
Ausstellungen
April – Juni 2004
Mathematik und Malerei, Einzelausstellung in den Räumen der Technischen Universität München (TUM)
April – Juni 2005
Faszination Mathematik: Abstrakte Strukturen in Malerei und Mathematik, Einzelausstellung im Europäischen Patentamt in München und Den Haag
Seit 2006
Ständige Ausstellung im Bayerischen Obersten Rechnungshof, München
»Mathematik ist für mich ein farbenreicher, inspirierender Raum.«
Julius Kerscher über seine Arbeiten.
Ein Interview
Herr Kerscher, wie kamen Sie dazu, sich mit Kunst zu beschäftigen?
Meine aktive Beschäftigung mit bildender Kunst begann in den ersten Semestern des Studiums der Mathematik, die erste Werkserie entstand in einer intensiven Prüfungsphase. Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit faszinierenden abstrakten Sachverhalten ganz natürlich dazu führt, dass man zunächst Unvorstellbares vereinfachend verbildlicht, auch damit man leichter Ideen teilen kann. Die Schaubilder, die somit üblicher Weise entstehen, fand ich auch rein visuell interessant, genauso wie viele Tafelbilder, welche die Professoren entwarfen. Es schien mir immer wieder schade, wenn man diese löschte. Und es kam bei mir ein Bedürfnis auf, solche Bilder auch mit fixierbaren Medien zu erstellen. Ich habe zunächst mit Stift und Papier gearbeitet, später als Pendant zur konventionellen Arbeit mit Kreide an einer Tafel mit Ölkreide und Pinseln auf Leinwand. Es gab hier eine stetige Entwicklung, irgendwann bestand einfach die Lust, Gedankenskizzen und dadurch ausgelöste bildliche, zunehmend auch farbliche Vorstellungen als etwas an sich Wertvolles weiterzuführen. Ich kann keine spezielle Vorlesung erinnern, die mich besonders zum Malen angeregt hat. Natürlich lernte ich Gebiete kennen, die besonders an die Vorstellung appellieren, deren Gegenstände besonders geometrisch diskutiert werden können oder auch besonders schwer sind, abstrakt, sodass bildliche Vorstellung zweckreich ist. Oder eben auch die Themen, die mir besonders am Herzen lagen, über die ich aus Gefallen so intensiv meditiert habe, dass ganz natürlich immer reichere bildliche Vorstellungen entstanden sind.
Gibt es für Sie besondere Quellen der Inspiration?
Lektüre und Nachdenken über formale Strukturen, was wohl sehr allgemein klingt. Die Mathematik ist ein dominanter Spezialfall und war für mich auch das erste Beispiel einer abstrakten Welt, die kennenzulernen ich auch dadurch versucht habe, dass ich sie mir bildlich vorstelle. Ich sehe in diese Welt hinein und sehe darin Muster oder erlebe Eindrücke, die ich festhalten möchte, aus Freude darüber. Ich wurde einmal gefragt, ob Mathematik hinsichtlich der Malerei halluzinogen auf mich wirke. Das würde ich bejahen, wenn es nicht so vorbelastet klingen würde. Jedenfalls lösen mathematische Anekdoten in meinem Kopf immer wieder starke bildliche Vorstellungen aus. Mathematik ist eine großartige Quelle der Inspiration, auch über ihre eigene Domäne hinaus. Eine weitere Inspiration finde ich in der abstrakten und synthetischen Landschaftsmalerei. Ich würde Per Kirkeby nennen, vielleicht nicht zufällig Naturwissenschaftler, ein promovierter Geologe. Mir gefällt eine Farb- und Formsprache mit dem Charakter eines abstrakten Spieles mit einzelnen wiedererkennbaren Mustern, die sich aus der physischen Realität ableiten, dann aber nach eigenen Gedankengängen zusammengesetzt eine neue Landschaft ergeben. Nebenbei mag ich den Begriff der Landschaftsmalerei auch, weil ich mir mathematische Gebiete oder auch Objekte, zum Beispiel vieldimensionale Zahlenräume, oft wie Landschaften vorstelle. Und indem ich so einen Zahlenraum und seine Besonderheiten kennenlerne, erlebe ich das im Geiste als ginge ich durch einen Urwald, durch eine Landschaft, in der es zwischen Kuppen, Hügeln und Tälern Besonderheiten zu finden und zu verorten gibt.
Und wie haben wir uns nun konkret bei ihren Arbeiten den Werkprozess vorzustellen?
Der Prozess beginnt mit einer Skizze. Ich mache selten Farbskizzen, sondern arbeite sehr schnell mit schwarzem Faserstift auf Papier, irgendein Papier, was ich gerade im rechten Moment zur Hand habe. Und notiere dann Farben einfach in Worten. Die schlimmste Vorstellung ist, irgendwo hinzugehen ohne Papier und Stift. Wenn mir eine gute Idee kommt, möchte ich sie festhalten können. Ansonsten gehe ich sehr schnell dazu über, direkt auf Leinwandkörpern zu arbeiten. Diese werden noch über längere Zeit hinweg als Notiztafeln bearbeitet. Hier wird mit Filzstift und Markern darauf geschrieben, werden schriftliche Überlegungen zum Thema durchgeführt. Beim Malen verwende ich verschiedene Werkzeuge, wobei ich vom Typ her Schreibwerkzeuge und Wischwerkzeuge unterscheiden möchte. Zum Beispiel wird mit Pinsel oder Ölkreide skizziert und geschrieben, und dann wieder durch eine neue Schicht Farbe verwischt, analog zum Tafellöschen, dann wieder eine neue Skizze darauf und dann wieder Farbe drüber und so fort. Generell ist es so, dass ich in vielen Schichten arbeite. Ein Bild stellt für mich einen Prozess dar und eine Sequenz von Schichten, die teilweise durchscheinen als lägen viele Dias übereinander. Allerdings durchdringen sich die Farbschichten auch, da ich beispielsweise auf mal dünn mal pastos aufgetragenen Ölschichten fest mit Ölkreide schreibe oder auch wie mit einem Stock im Sand mit einem Malmesser in den Farbschichten arbeite.
Könnten wir als Betrachter, wenn wir eine Schicht nach der anderen voneinander separieren würden, ihren vollständigen Denkprozess auf der Leinwand nachvollziehen?
Ich hatte gerade das Bild beziehungsweise eine Bildersequenz einer sich öffnenden Blüte im Kopf, alle Einzelaufnahmen überlagert, ein zugleich statischer und dynamischer Eindruck. Idealer Weise ist zu erkennen, dass unter der Oberfläche, als Vorgeschichte der letztlich zu sehenden Blüte, ein Werdegang materialisiert ist. Ein verbalisierbarer Denkprozess ist im Einzelnen aus dem Blick auf die Bildfläche wohl nicht zu erkennen.
Wie lange dauert es, bis Sie ein so ein vielschichtiges Gemälde fertig haben?
Das kann sich über ein ganzes Jahr oder länger hinwegstrecken, bedingt auch durch lange Trocknungszeiten der Materialien. Damit ich das aushalte, arbeite ich an vielen Bildern gleichzeitig. Während ein Bild gerade trocknet, arbeite ich am nächsten. Ich setze mich ohnehin weniger mit Einzelbildern als mit Gebieten auseinander, wobei als Serie von Gedanken zusammengehörende Bilder entstehen und ich so an Bildern in Intervallen arbeite, verteilt und parallel.
Welche künstlerischen Techniken bevorzugen Sie bei ihrer Arbeit?
Ich arbeite viel mit Mischtechniken, die ich mir durch Versuch und Irrtum erarbeitet habe. Tatsächlich habe ich keinen einzigen akademischen Kurs der Bildenden Künste besucht. Ich sehe in meinem autodidaktischen Lernen eine gewisse Chance: Indem man sich nicht belehren lässt, lässt man sich mit Sicherheit auch nicht zu stark beeinflussen. Somit wird man einen individuellen Stil behalten oder sich erarbeiten. Ich habe viel experimentiert. Ich habe dabei auch versucht, Muster und Abläufe zu bedienen, die ich auch in der Mathematik beim Verbildlichen erfahren habe. Wichtig ist mir die Analogie zwischen Arbeit mit Kreide und Tafelkörper einerseits, mit Ölkreide und Leinwandkörper andererseits, auch was die physischen Dimensionen und Bewegungen angeht. Selbst das Tafelwischen findet bei mir Übersetzung im Verwischen dick aufgetragener Farbe durch große Bretter, Kellen oder Ähnliches. Wobei bei diesen wiederholten Wischvorgängen in frischer Farbe noch ein visueller Effekt hinzukommt, der mich allgemein fasziniert. Einer meiner Lehrer hat das mal genannt: Durch die Iteration einfacher Schritte können die interessantesten Dinge entstehen. Eine weitere wichtige Technik, die schlicht auch mit Faszination an Materialität und Plastizität zusammenhängt, ist die Collage. In einigen Bildern wird durch die Collage ein Argument wie durch seinen logischer Bauplan auf der Leinwand verkörpert.
Herr Kerscher, Sie weisen immer wieder darauf hin, dass Farbe für Sie große Bedeutung hat.
Farbvorstellungen sind frühzeitig da, wie gesagt, schon in den ersten Skizzen. Bei vielen Gebieten denke ich tendenziell an eine bestimmte Farbe, die zeitlich zwar konsistent zugeordnet erscheint, aber eben subjektiver Natur ist. Stelle ich mir beispielsweise irgendein zahlentheoretisches Thema vor, mit dem ich spontan eine bestimmte Farbe assoziiere, dann mag die Farberscheinung bei jemand, der denselben Sachverhalt studiert, eventuell nicht auftreten oder es ist vielleicht eine andere. Es gibt also auch diese stark subjektive Dimension, sobald ich von der relativ greifbaren Skizzierung zur wirklichen Malerei übergehe. Malerei bedeutet für mich wesentlich, mit Farbe zu arbeiten, weil ich entsprechende intensive Farbvorstellungen im Kopf habe und sie so faszinierend finde oder mir gewisse Themen so vor einem geistigen Auge leuchten, dass ich sie abbilden möchte. Mein subjektives Erleben drückt sich hier aus. Ich möchte die Betonung hier nicht auf mein, sondern auf das Erleben legen. Die echte Mathematik ist erlebbar als etwas sehr Reichhaltiges, ein Universum wundervoller Ideen, unendlich viel mehr als bloßer Rechenkalkül. Dabei spielen Kreativität und ästhetisches Erleben eine wichtige Rolle.
Gibt es bestimmte mathematische Bereiche, die Sie mit einer bestimmten Farbe verbinden?
Es gibt gewisse Gebiete, zum Beispiel in der algebraischen Zahlentheorie, die für mich tendenziell mit einem Spektrum von Grüntönen verbunden sind. Das ist wie gesagt hochgradig individuell, aber in meinem Fall beruhigender Weise auch zeitlich recht konstant. Diese Vorstellungen sind auch nicht willkürlich im eigentlichen Wortsinne – nicht meine willentliche Auserkürung ruft eine Farbe auf den Plan, ich setze nur die Farbe, die ich bereits vor meinem geistigen Auge sehe.
Wie haben wir den Untertitel der Ausstellung »Colorful mindscapes« zu verstehen?
Meine Bilder sind letztlich Aufnahmen farbig-leuchtender mentaler Landschaften. »human mind« weckt zunächst vielleicht Assoziationen geringerer räumlicher Ausdehnung als »landscapes«, doch hat mich gerade in der Mathematik immer begeistert, dass man im räumlich kleinen menschlichen Kopf so phantastisch ausufernde Dinge bedenken kann. Die Unendlichkeiten allein! Wir können einen Begriff des Unendlichen entwickeln und das erfolgt innerhalb dieser wenigen Kubikzentimeter grauer Masse, die wir Gehirn nennen. Das fasziniert mich. Ich muss an ein kleines Prisma denken, auf das ein lichter Gedanke trifft, das ein reichhaltiges Spektrum an Farben auffächert und ausstrahlt.
Was setzen Sie eigentlich für ein Verständnis bei ihrem Publikum voraus?
Ein intuitives, kein sachlich erklärbares, darum geht es mir nicht. Ich habe vorhin diese Idealvorstellung erwähnt, dass jemand, so er vor einem Bild steht und von einem Bezug zur Mathematik erfahren hat, intuitiv begreift, dass dahinter irgendetwas stehen muss, was mehr ist als bloßes Rechnen. Dass hinter dem Bild ein starkes Erleben, eine ästhetische Faszination steht. Das setzt nicht voraus, unterliegende mathematische Sachverhalte zu kennen, im Bild zu erkennen oder formal zu verstehen. Ich erstelle keine Schaubilder, keine Ausstellungsposter, habe im Werkprozess kein Publikum vor Augen, sondern bilde einfach gewisse Vorstellungen für mich selbst ab. Aber wenn es dazu kommt, dass jemand ein Bild sieht und ahnt, eine abstrakte Welt wie die Mathematik müsse doch faszinierend sein und sich dann weitergehend dafür interessiert, dann freut es mich.